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Titel
Schreibarbeit. Die alltägliche Wissenspraxis eines Bieler Arztes im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Gafner, Lina
Erschienen
Tübingen 2016: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
?
Preis
?
URL
von
Maria Böhmer, Institut für biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich

Was ist ein Arzt in der Schweiz des 19. Jahrhunderts – und wie dokumentiert er seine Tätigkeit? Lina Gafners Studie Schreibarbeit, 2015 von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen, geht diesen Fragen auf den Grund. Untersuchungsgegenstand ist das 55 handschriftliche Bände umfassende «Praxisjournal» von Cäsar Adolf Bloesch (1804–1863), der sich als Arzt, Politiker und Historiker in Biel einen Namen machte. Wie im Titel deutlich wird, interessiert sich die Autorin für die immense «Schreibarbeit», die Bloesch mit der Niederschrift seines «Tagebuchs ärztlicher Besuche und Verordnungen» leistete. Sie kann zeigen, dass er mit dieser nicht nur seine alltägliche medizinische Praxis über Jahrzehnte hinweg organisierte, sondern dass sein Schreiben Bloeschs Identität als Arzt und sein Selbstverständnis als wissenschaftlicher Experte massgeblich prägte.

In der Einleitung «Schreibarbeit Lesen» knüpft Gafner an verschiedene jüngere Forschungsrichtungen an, um ihre Untersuchung der Bloesch’schen «Schreibpraxis» disziplinär zu verorten: an die neuere Wissensgeschichte mit ihrem Fokus auf der Produktion und der Materialität von Wissen, an die Literaturgeschichte mit ihrer Betonung der Bedeutung des Schreibens für die Wissensgenerierung, sowie an das neuere Forschungsfeld der «paper technology» (Volker Hess) mit seinem Interesse für Techniken und Praktiken der Notation. Ziel der Autorin ist die «Situierung der ärztlichen Praxis und der Schreibarbeit Bloeschs in der Geschichte der Medizin und des ärztlichen Standes, aber auch in der Verwaltungsgeschichte und im Kontext der Staatsbildung» (S. 5). Gafner versteht ihre Studie als Beitrag zu einer Medizingeschichte der Sattelzeit, für die sie historiografisch gesehen einen «toten Winkel» zwischen vormoderner und moderner Medizin identifiziert (S. 3). In Anlehnung an die Mikrogeschichte begreift sie Bloeschs Journal als Ausdruck des «ungewöhnlich Normalen», das durch den Blick auf alltägliche Praktiken erlauben soll, die Umbrüche und die strukturellen Veränderungen des 19. Jahrhunderts (Professionalisierung, Staatsbildung, Verwissenschaftlichung) besser zu verstehen (S. 8).

Die Studie gliedert sich in drei Teile und spannt den Bogen von der Funktion, die Bloeschs Schreiben für seine eigene privatärztliche Tätigkeit hatte, über die Fachöffentlichkeit als «Resonanzraum» seiner Aktenführung bis hin zu den vorstrukturierten Schreibformaten wie Impftabellen, Zeugnisse oder Gutachten, die in das Tagebuch Eingang fanden. Diese sehr überzeugende Strukturierung ihres Themas ermöglicht Gafner, die individuelle Schreibpraxis Bloeschs in dreierlei Hinsicht zu kontextualisieren: in ihrem Verhältnis zur medizinischen Wissenschaft der Zeit, in ihrem Bezug zur sich formierenden Ärzteschaft und ihrer «Vergesellschaftung» in lokalen ärztlichen Vereinen sowie schliesslich in ihrem Verhältnis zur staatlichen Verwaltung.

Der erste Teil («Schreiben für sich») klärt die pragmatischen, administrativen und epistemischen Funktionen, die das Führen seines Journals für Bloesch erfüllte. Das Tagebuch erweist sich als das Resultat eines mehrstufigen Aufschreibeprozesses am Krankenbett, das durch die Regelmässigkeit des Schreibens sowie des späteren Konsultierens und Redigierens zu einem «Zeuge[n] vollzogener Handlungen» wird (S. 25). Gafners punktuelle Text- und Schriftanalyse der täglichen Einträge zeigt zum einen, wie der «methodische Individualismus» Bloeschs – er stützt sich auf Krankheitszeichen, nicht Diagnosen – im Kontrast zu zeitgenössischen Bemühungen in Klinik und Verwaltung steht, Aufschreibesysteme zu formalisieren (S. 62). Zum anderen interpretiert sie Bloeschs «Verunsicherung über das Verhältnis von Theorie und Praxis» überzeugend als Ausdruck eines allgemeineren «Krisenbewusstseins» (S. 32) in der zeitgenössischen Medizin, die sich als Erfahrungswissenschaft verstanden wissen wollte und sich deshalb einerseits von den nicht-akademischen Empirikern abzugrenzen und andererseits als einheitlicher gelehrter Stand zu profilieren versuchte. Während Bloeschs tägliche Einträge das stete Interesse des Empirikers für die «Problemstellungen» (S. 88) des Einzelfalls dokumentieren, verraten seine monatlichen Rückblicke ein über die Jahre zunehmendes Interesse an der Einordnung, der Generalisierung und Systematisierung von Wissen: Sie enthalten meteorologische Aufzeichnungen und epidemiologische Beobachtungen über den Gesundheitszustand der Bevölkerung und spiegeln somit die zeitgenössische Nachfrage nach medizinischen Topografien.

Im zweiten Teil ihrer Studie («Unter Kollegen») untersucht Gafner «kollektive und kommunikative Praktiken der Wissensproduktion» (S. 93) in der Fachöffentlichkeit der akademisch gebildeten Mediziner. Anhand der Akten der Medicinisch chirurgischen Gesellschaft des Cantons Bern (ab 1809) und des Bieler Bezirksvereins (ab 1845) und mit dem Fokus auf den Streit um die Reform des Medizinalwesens zeigt sie, wie die lokalen Ärzte in die politischen Grabenkämpfe der Zeit involviert waren und verschiedene Formen der Geselligkeit in den Vereinen dazu nutzten, politische sowie wissenschaftliche Konflikte zu überwinden und ihr Fachkollegium als Einheit zu konstituieren. Als langjähriger Präsident des Bezirksvereins sowie Gemeindepräsident der Stadt Biel erscheint Bloesch in diesem Kontext als liberal-konservativer Lokalpolitiker, der sich für die Interessen der Stadt gegenüber dem Kanton einsetzte.

Der dritte Teil («Öffentliches Schreiben») nimmt die im Journal enthaltenen gerichtsärztlichen Gutachten, ärztlichen Zeugnisse sowie Impftabellen unter die Lupe, um die Verbindungen zwischen ärztlicher Praxis und öffentlicher Verwaltung offenzulegen. Anhand dieser Formate «öffentlichen Schreibens» – Gafner charakterisiert sie treffend als ein «Schreiben und Denken nach Vorschrift» (S. 161) – wird deutlich, wie die Ärzte als neue Experten administrativ in den Staat eingebunden wurden. Zwar entsprach das Aufkommen der Medizinalstatistik ihrem Interesse an kollektivem Empirismus; der mit der Statistik verbundene Zwang zur Vereinheitlichung stand aber auch im Spannungsverhältnis zur ärztlichen Praxis, die der Vielfalt und Individualität von Einzelfällen Rechnung tragen musste. Das Verfassen amtlicher Zeugnisse machte die Ärzte jenseits ihres therapeutischen Erfolges zu «professionalisierten Zeugen» und verhalf ihnen zu «sozialem

Kapital» (S. 218). Abschliessend demonstriert Gafner, wie das Tagebuch, ursprünglich als rein administratives Instrument begonnen, für seinen Autor mit den Jahren zu einem «Ort der Selbstverwaltung» wurde. Dies wird an den rückblickenden und selbstreflektierenden Passagen deutlich, die gegen Ende von Bloeschs Lebenszeit zunahmen und ein Manuskript bildeten, das posthum als autobiografische Schrift publiziert wurde. Das Tagebuch offenbart sich hier «als Gefäss des Geständnisses, als ein protestantischer Ersatz des Beichtvaters und nicht zuletzt als eine konsequente Weiterführung der Buchhaltung» (S. 238).

Mit ihrer Studie leistet Gafner einen wichtigen Beitrag zur Geschichte ärztlichen Schreibens – insbesondere auch zu Fallgeschichten – und zur Geschichte der Schweizer Ärzteschaft im 19. Jahrhundert. Es gelingt ihr beispielhaft, jenseits eines Entdecker- und Erfolgsnarrativs die Figur Bloeschs in ihrem historischen Kontext zu verorten und dabei zu demonstrieren, welch grosses Potential die Quelle «Praxisjournal» birgt, wenn man das Verwobensein ärztlichen Schreibens mit der öffentlich-administrativen Praxis untersucht. Positiv hervorzuheben sind darüber hinaus Gafners präzise Sprache, ihre luziden Quellenanalysen und ihr Gespür für die Ambivalenzen und Spannungsverhältnisse in der Medizin des 19. Jahrhunderts, das in ihrem multiperspektivischen Blick auf Akteure, Ereignisse und Schrift zum Ausdruck kommt. Das Buch «Schreibarbeit» erfordert also keine anstrengende «Lesearbeit»: Vielmehr liest man die Studie mit grossem Vergnügen und Erkenntnisgewinn.

Zitierweise:
Maria Böhmer: Lina Gafner: Schreibarbeit. Die alltägliche Wissenspraxis eines Bieler Arztes im 19. Jahrhundert, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 335-337.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 335-337.

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